Erich hat es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht. Frische Blumen stehen auf dem Tisch. Die Familienfotos sind neu an der Wand aufgehängt. Ein helles Zimmer, schön eingerichtet. Erichs Freundin Ina kommt strahlend herein und setzt sich neben ihren Erich. „Schön hier!“, sagt sie, und ihr Blick schweift zum Fenster. Hinter der Scheibe zeichnet sich die Silhouette der Friedenskirche ab. „Nur an die Glocken müssen wir uns noch gewöhnen“, sagt Erich und schmunzelt.
Einrichtungsleiter Christoph Kolde ist froh darüber, dass seine Bewohner, allesamt Menschen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen, so langsam angekommen sind, hier in Löbtau, an der Wernerstraße. Das brache Gelände hat die Lebenshilfe Dresden in Erbbaupacht von der Kirchgemeinde übernommen und eine dreigeschossige Wohnstätte mit Tagesstätte errichtet. Das Haus ist seit Februar in Betrieb. Die Wohnstätte ersetzt mehrere Gebäude in anderen Stadtteilen, die in die Jahre gekommen waren und nicht so einfach umgebaut oder modernisiert werden konnten.
So kommt es, das Erich und Ina nun direkte Nachbarn der Friedenskirchgemeinde sind, genauso wie die anderen 30 Bewohner im Alter zwischen 30 und 70 Jahren. „Wir haben hier wirklich viel bessere und moderne Bedingungen, mehr Platz und mehr Möglichkeiten und auch ein schönes, neu gestaltetes Außengelände“, sagt Christoph Kolde. Der Umzug war dennoch nicht so einfach. Vielen Bewohnern und auch Mitarbeitern ist der Abschied schwer gefallen. Man war eingewöhnt, hatte sich eingerichtet. „Aber die Mitarbeiter und Bewohner haben das wirklich toll gemacht, sich gegenseitig ermutigt und auch die Angehörigen mitgenommen“, sagt Herr Kolde. Zurück will heute keiner mehr. Nach und nach nehmen sie stattdessen das neue Gebäude in Besitz, machen es zu ihrem Zuhause, erkunden die Umgebung, wie die Kesselsdorfer Straße mit all den Angeboten gleich um die Ecke.
Auch für Ina und Erich ist es ein besonderer Neustart hier im Wohnheim. Da sich in einer Wohneinheit immer zwei Zimmer gegenüberliegen mit dem Bad und Flur dazwischen, haben sie nun sowas wie eine kleine gemeinsame Wohnung. Alles haben sie selber eingerichtet mithilfe der Mitarbeiter und Angehörigen. „Schöner wie drüben“, sagt Ina, und meint die alte Wohnstätte an der Bautzener Straße.
Der Alltag freilich sieht auch hier aus, wie „drüben“. Morgens gehen etliche zur Arbeit in die Werkstätten. Die anderen gehen in die Tagesangebote. Nachmittags ist Freizeit – allein oder zusammen, wie jeder mag, Einkaufen, Haushalt, gemeinsames Essen in der geräumigen Wohnküche. Am Wochenende gibt es Ausflüge, Angehörige kommen. Los ist immer was.
Dass die Kirche so gleich nebenan ist, soll nicht nur beim Blick aus dem Fenster greifbar sein. „Ich denke, hier kann etwas wachsen“, sagt der 52-Jährige. Vom Besuch des Gottesdiensts über Berührungspunkte bei Feierlichkeiten wie auch die Nutzung der Räume für beispielsweise den Kindergottesdienst ist vieles denkbar. „Wir sollten daraus keinen Zwang machen, aber offen und neugierig aufeinander zugehen und schauen, was möglich ist. Ich bin gespannt“, sagt Herr Kolde.
Auch Thomas Pawlik vom Kirchenvorstand freut sich auf ein gutes nachbarschaftliches Miteinander. „Die Lebenshilfe Dresden wurde einst unter dem Dach der Hoffnungskirche, die auch zur Gemeinde gehört, gegründet. Dass die Lebenshilfe das Grundstück erhält, war für uns wichtig bei der Vergabe. Ich bin mir sicher, dass wir auch in Zukunft gemeinsame Anknüpfungspunkte im Gemeindeleben finden.“
Maßgeblich mit eingefädelt hat den „Grundstücks-Deal“ damals Birgit Assis Ferreira, viele Jahre als Bereichsleiterin bei der Lebenshilfe Dresden tätig und Gemeindemitglied. „Der Mann meiner Großtante arbeitete als Kirchenbuchinspektor im Pfarrhaus auf der Wernerstraße. Es wurde, wie die Friedenskirche, bei den Bombenangriffen 1945 zerstört und konnte nicht wieder aufgebaut werden. Allerdings diente das Grundstück in der Nachkriegszeit vielen Familien der Kirchenangestellten als Gartenfläche für Gemüseanbau, um über die Notzeit zu kommen. Als wir für ein neues Heim vor ein paar Jahren auf Grundstückssuche waren – unsere Vision war ein Haus mitten im Stadtteil, die Bewohner als Nachbarn und die Wege kurz, die Infrastruktur gut – ging mir das Kirchengrundstück hier nicht mehr aus dem Kopf und so nahmen der Vorstand und ich Kontakt auf. Der Rest der Geschichte ist bekannt.“ 4,2 Millionen Euro hat die Lebenshilfe an der Wernerstraße investiert. Gefördert wurde das Projekt von der Landeshauptstadt und dem Freistaat.
Insgesamt 30 Mitarbeiter und Helfer, wie vom Bundesfreiwilligendienst, kümmern sich rund um die Uhr um die Bewohner. „Jeder Tag ist natürlich eine Herausforderung und wo Menschen zusammen sind, ruckelt es auch mal. Aber wir sind ein gutes Team, und ich finde es ganz wichtig, dass wir es so gestalten, dass sich alle hier wohl fühlen. Dann bin ich auch zufrieden“, sagt Kolde. Bei Erich und Ina funktioniert das mit dem Wohlfühlen schon mal gut, wie man sieht.
Matthias Weigel